Samstag, 5. Juni 2010

Fußballdorf Brochthausen

Gleich um die Ecke von meinem Wohnort liegt Brochthausen. Ein kleines Eichsfelddorf mit einer großen Fußballhistorie. Die Gegenwart sieht allerdings weniger gut aus.

Um Brochthausens Fußball steht es schlecht. Der Abstieg in die 2. Kreisklasse steht bevor, und auch wenn es dort wieder Derbys gegen die Nachbarn aus Langenhagen und Fuhrbach gibt, kann das in der 600-Seelengemeinde im Untereichsfeld niemanden trösten. Brochthausen geht es wie allen Klubs vergleichbarer Größenordnung. Das Interesse am Fußball hat kontinuierlich abgenommen, die Handvoll Jugendlicher interessiert sich für andere Dinge und für die Zukunft wird es wohl eine Spielgemeinschaft mit dem gleichfalls darbenden Nachbarn VfR Langenhagen geben.
Früher war Brochthausen eine Macht. Einer dieser Dorfklubs, deren Zusammenhalt legendär war und vor dem sie auch in den Städten zitterten. In Duderstadt sowieso, doch auch in Göttingen. Bis 1957 waren die Schwarz-Weißen in der dritthöchsten Spielklasse Niedersachsens vertreten und maßen die Kräfte mit Vereinen wie dem VfR Osterode und der SVG Göttingen. Brochthausen war das Fußballdorf, in das niemand gerne kam.
Die Glanzzeit des FC Brochthausen reicht aber noch viel früher zurück. 1920 gegründet, schalteten die Schwarz-Weißen 1926 auf dem in die höchste damals erreichbare Spielklasse immerhin Größen wie den VfL Duderstadt und Spielvereinigung Mansfeld aus. Bis nach Nordhausen und Sangerhausen musste die Dorfelf anschließend zu ihren Ligaspielen reisen und schlug sich im Konzert der Großen mehr als tapfer.
Als 1933 die Nazis die Macht in Deutschland übernahmen, räumten sie im Fußball alles beiseite, was ihnen unlieb war. Dazu gehörten die Vereine der katholischen Sportbewegung DJK, die im katholischen Eichsfeld zahlreich waren. Der FC Brochthausen gehörte damals schon dem DFB an und hatte plötzlich freie Bahn. Inzwischen von Thüringen nach Niedersachsen versetzt, erreichte er 1934 die zweithöchste Bezirksliga und traf dort auf renommierte Mannschaften wie Göttingen 05, Hildesheim 07 und Einbeck 05. Unerschrocken triumphierte die Dorfelf auch über die städtische Konkurrenz und sicherte sich in der Saison 1936/37 sensationell die Staffelmeisterschaft.
Damit verbunden war die Teilnahme an der Aufstiegsrunde zur Gauliga Niedersachsen, in der Größen wie Werder Bremen, Eintracht Braunschweig, Hannover 96 und Arminia Hannover kickten. Das kleine Brochthausen stand Kopf bei der Vorstellung, Nationalspieler wie die Bremer „Edu“ Hundt und Tibulski oder den 96er Edmund Malecki mit ihren Vereinen zu Ligaspiele im Untereichsfeld auflaufen zu sehen. Doch der Dorfklub in der Großstadtliga – das durfte offenbar nicht sein. Im ersten Aufstiegsrundenspiel hatte man sich 2:2 von Germania Wolfenbüttel getrennt, als die Gausportführung eingriff und den Sportplatz in Brochthausen für die weiteren Begegnungen sperrte. Begründung: Er sei nicht „vorschriftsmäßig abgetrennt“ gewesen. Linden 07 erhielt dadurch kampflos die Punkte zugesprochen und der FC Brochthausen musste seine Erstligaträume begraben.
Josef Haase, der damals als Halbrechter in der Erfolgself stand, ist noch heute treuer Besucher der Spiele des FC Brochthausen. „Wir haben zwar noch drei Heim- und ein Auswärtsspiel, aber ich glaube nicht, dass wir den Klassenerhalt noch schaffen“, befürchtet der 96-jährige, den der Fußball sein Leben lang nicht losgelassen hat. „Wir hatten ja nichts. Wir haben gearbeitet, und dann war da der Fußball. Ich habe viele Jahre im Ruhrgebiet und in Bonn gearbeitet und bin am Wochenende nach Hause gekommen, um Fußball zu spielen. Meine Frau kam dann nach Einbeck oder Göttingen, brachte mir eine Stracke Mettwurst und frische Wäsche mit. Dann habe ich gespielt, musste aber sofort nach dem Spiel wieder nach Essen oder Bonn zurückfahren, weil ich doch am Montag wieder arbeiten musste. Mit dem Zug musste ich immer erst über Hannover fahren. Später hatte dann einer meiner Kollegen ein Auto, da wurde es einfacher“.
An die „goldenen Zeiten“ des FC Brochthausen erinnert sich Josef Haase mit leuchtenden Augen. „Wir waren alles Brochthäuser. Keine Fremden. Auch mein Bruder August stand in der Mannschaft. Meine Schwager Josef und August Jakobi waren Mittelstürmer und Läufer, und Paul Moneke, das war der Sohn vom Gastwirt. Da haben uns nach dem Spiel immer alle getroffen und zusammen gegessen. Der Zusammenhalt war schon enorm.“
Gastwirt Moneke spielte eine Schlüsselrolle beim Brochthauser Fußballwunder. Er war nicht nur Mitgründer des Klubs, sondern stellte auch eine Wiese zur Verfügung, auf der gekickt werden konnte. In den späten 1920er Jahren reichte im Eichsfeld keine Mannschaft an die Spielstärke der Brochthäuser heran. „Von zehn Spielen gegen den VfL Duderstadt haben wir acht gewonnen und nur zwei verloren“, lacht Josef Haase noch heute. Drei Gauauswahlspieler stellte die kleine Gemeinde damals: Neben Josef Haase auch Verteidiger Adam und Torhüter August Muth. „Der Sportkreisleiter Wiese aus Worbis kam gerne nach Brochthausen. Der hat uns gerne spielen sehen und uns alle sehr gefördert“.
Als 1939 der Zweite Weltkrieg begann, erfuhr das Brochthäuser Fußballwunder eine Unterbrechung. Der Fußball trat ins zweite Glied und es dauerte bis 1946, ehe der Spielbetrieb wieder ins Laufen kam. Drei Jahre später kam Arminia Hannover ins Untereichsfeld, um den heutigen Sportplatz einzuweihen. Bis 1957 pendelte der Dorfklub noch zwischen Verbandsliga und Bezirksliga, ehe der Absturz begann. Nach und nach hatten die Brochthäuser Fußballhelden ihre Stiefel an den Nagel gehängt, und in Wirtschaftswunderzeiten erhielten die Stadtvereine große Vorteile. 1962 verschwand Brochthausen in der 1. Kreisklasse und der gefürchtete Ruf als „Fußballdorf“ wurde allmählich zur Legende.
Josef Haase sieht die Entwicklung ganz unsentimental. „Die alten Zeiten sind vorbei. Die jungen Leute gehen weg, und wir haben zu wenige Spieler. Von den 600 Einwohnern in Brochthausen sind viele Zugezogene, die kein Interesse am Fußball, haben“. Und so werden es immer weniger, die gemeinsam mit Josef Haase den Spielen des einstigen Favoritenschrecks folgen.
Hannover 96 und Werder Bremen aber kommen heute wirklich regelmäßig nach Brochthausen – im Fernsehen. „Samstag gucken wir immer mit 15 Mann Bundesliga in der Gastwirtschaft, da geht es manchmal hoch her“, erzählt Josef Haase. Sein Herz schlägt übrigens weder für Werder noch für 96. „Ich bin Schalker“, bekennt er stolz. © Hardy Grüne
Dieser Artikel erschien 2009 in der Zeitschrift GöKick (www.goekick.de)

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